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‚Der Sandmann kommt!‘ – Aber woher genau?

Christian Walter | | 0 Kommentare
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© Foto Klaus M. Einwanger

Eine kurze Geschichte über den Schlafbringer

„Der Sandmann kommt!“. Wir alle kennen diesen Satz und haben ihn so oder so ähnlich in unserer Kindheit gehört. Sei es, wenn wir abends müde wurden und uns die Augen zufielen, oder wenn wir uns morgens noch müde den „Schlafsand“ aus den Augen rieben: „Oh – war das Sandmännchen da?“

Das Sandmännchen – wir denken dabei wahrscheinlich an das allseits bekannte Sandmännchen aus dem Fernsehen, mit dem weißen Ziegenbärtchen, den Knopfaugen und der Mütze, welches abends kommt, eine Geschichte erzählt und uns dann den Schlafsand in die Augen pustet.

Aber woher kommt der Sandmann eigentlich und warum?

Der Sandmann ist im deutschen Sprachraum schon seit mindestens 250 Jahren bekannt*(1) und auch da bereits als Idiom. Beispielsweise in einem Wörterbuch aus dem Jahr 1798:

„Der Sandmann (…) 1) Ein Mann, der Sand führet, Sand verkauft. Im Scherze sagt man auch zu den Kindern, wenn sie schläfrig werden, und sich die Augen reiben, als wenn man ihnen Sand hinein gestreuet hätte, der Sandmann komme.“

Diese Sandhändler, auf welche hier Bezug genommen wird, waren ein weit verbreiteter, ärmlicher Berufsstand. Reisendes Volk, das Sand in verschiedener Körnigkeit feilbot: zum Dielen putzen, um Töpfe und Pfannen zu schrubben, zum Hände waschen. Sand war aus dem Haushalt genau so wenig wegzudenken wie Soda oder Seife. Man darf sich vorstellen, wie am Samstag die ganze Wohnung voller Sand gestreut wurde, welcher die Feuchtigkeit aus den Dielen zog und mit dem die Verunreinigungen aller Art einfach weggeschmirgelt wurden. Der Beruf der Sandleute ist bis ins 20. Jahrhundert belegt, bis der Sand schließlich durch synthetische Putzmittel abgelöst wurde.

Dass der Sandmann auch Geschichten bringt, ist sehr wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass in einer unvernetzten Welt reisendes Volk stets ein Quell von Nachrichten und Geschichten war. Geschichten, die wiederum den Kindern vor dem Einschlafen erzählt wurden, bis die sich müde die Augen rieben.

Ein Sandverkäufer ist er also, unser Sandmann. Aber warum bringt er uns Träume? Und was sind Träume? Um das zu ergründen, müssten wir ein wenig tiefer graben – was wir in einem nächsten Blogartikel ‚TRÄUME – Morpheus und der Schlafmohn‘ machen werden.

Lasst uns hier also zunächst einen Blick auf die Sandmanndarstellungen unserer Zeit werfen. Die Geschichte des Sandmanns findet sich in keinem bekannten Märchen der Brüder Grimm oder in sonstiger Schriftform. Zumindest keine über das Männchen, welches Schlafsand und Träume bringt und Geschichten erzählt.

Der erste ‚Soloauftritt‘ des Sandmannes, an den wahrscheinlich die meisten von uns im ersten Moment denken, findet erst im Jahre 1959 im Deutschen Fernsehfunk der DDR statt. Dieser hat sich die Figur nicht ausgedacht, soviel wissen wir schon.

Und auch der Gastauftritt im Märchen „Peterchens Mondfahrt“ war nicht die Geburtsstunde dieser Legende …

Ole Augenschließer

Ole Lukøje ist eine Erzählung des Dichters Hans Christian Andersen, welche im Jahr 1841 veröffentlich wurde. Sieben Nächte lang besucht Ole den kleinen Hjalmar und erzählt ihm eine Geschichte zum Einschlafen. Im Gepäck hat Ole zwei Schirme, einen mit Bildern auf der Innenseite und einen bilderlosen. Den ersteren spannt er über artigen Kindern auf und bringt ihnen so Träume, der zweite ist für unartige Kinder, welche eine traumlose Nacht bekommen.

Zum Einschlafen verschließt er die Augen der Kinder mit süßer Milch. Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um Schlafmohn*(2) handelt.

Es ist eine recht sonderbare Erzählung, wenn man sie so liest. Aber sie wird gerne als Ursprung der Sandmann-Legende gesehen. Sehr viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass Andersen unter anderem von E.T.A. Hoffmanns*(3) Sandmann inspiriert wurde. Andersen war in der deutschen Literatur sehr bewandert und „Der Sandmann“ erschien rund 25 Jahre vor Ole Augenschließer, im Jahr 1816.

Hoffmann und die Schreckgestalt

In Hoffmanns Schauergeschichte wird der junge Nathaniel von der Mutter mit den Worten: „Der Sandmann kommt!“ zu Bett geschickt und als er im Bett liegt, hört er ihn mit schweren Schritten die Treppe hinaufgehen und bekommt Angst. Als er die Mutter darauf anspricht, klärt sie das Missverständnis auf und sagt ihm:

„Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind, (…) wenn ich sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hineingestreut.“*(4)

Diese Schauergeschichte ist der Grundstein für ein ganzes Sammelsurium an düsteren Auftritten der Schreckgestalt Sandmann:

Sei es in Songtexten von Metallica („‚Til the sandman, he comes – sleep with one eye open…“) oder Rammstein („Nun, liebe Kinder, gebt fein acht. Ich bin die Stimme aus dem Kissen…“) oder in den berühmten Comics von Neil Gaiman, die bald auch als TV-Serie erscheinen.

Sandmann 2
E.T.A. Hoffmann – Der Sandmann

Ein multimedialer Star ist der Sandmann schon lange. Schon in den frühen Fünfzigern hieß es im Radio „Rot-Weiß-Rot“, einem Sender in Österreich unter Leitung der amerikanischen Besatzungsmächte, allabendlich: „Ich bin’s, der kleine Sandmann. Und ich komm, um meinen kleinen Freunden eine Gute Nacht zu sagen.“ Vielleicht kurz nachdem die aktuelle Nummer 1 der Billboard Charts – „Mr. Sandman“ von The Chordettes – gespielt wurde…

Diese Sendung inspirierte das Radio DDR zu ihrer Sendung „Der Sandmann kommt.“, welche dort den von Ilse Obrig inszenierten Abendgruß ablöste. Ilse Obrig ging in den Westen zum SFB und so kam es, dass der Sandmann plötzlich zwischen die Fronten des Kalten Krieges geriet.

Unser Sandmännchen und die Kraft der Träume

Über die Kraft der Träume wusste schließlich auch der stellvertretende Intendant des ostdeutschen Staatsfernsehens Walter Heynowski Bescheid. Als ihm die Ankündigung für eine westdeutsche Sandmännchen-Fernsehproduktion unterkommt, schreibt er in einer Hausmitteilung an das Kinderfernsehen: „…beiliegende Notiz beweist, daß der SFB mit seinem ‚Sandmännchen‘ unseren Abendgruss zur gleichen Minute täglich kontern will. Es zeigt sich also, daß wir mit unserer Sendung auch bei den Westberliner Kindern und deren Eltern ‚ankommen‘. Also grosse politische Wirkung durch Emotionen (…) die gegnerische Absicht, uns Zuschauer abzunehmen, darf nicht unterschätzt werden.“

Das DFF handelte schnell und produzierte innerhalb von zwei Wochen den ersten Sandmann-Rahmen und ging sogar noch eine Woche vor dem Westen damit auf Sendung. Man hatte keine Kosten und Mühen gescheut und die Sendung so aufwendig wie möglich produziert. Das machte sich auch bemerkbar, denn die Sendung des DFF, welche betont „Unser Sandmännchen“ genannt wurde, war ein voller Erfolg, während das West-Sandmännchen mehrere kuriose Iterationen durchlief und immer wieder abgesetzt wurde.

Das Ost-Sandmännchen hingegen ist bis heute auf Sendung, hat schon über 20,000 Folgen auf dem Buckel und sein Fuhrpark ist über die Jahre auf über 300 Fahrzeuge angewachsen…

Duwaddiwaddi schwebt auf Wolke Sieben

So ist der Sandmann – trotz Medienruhm – also bis heute ein Kind der mündlichen Überlieferung, ein mitteleuropäisches Fabelwesen, welches nie eine eigene Geschichte bekommen hat, vielleicht auch deswegen, weil der Sandmann es selbst ist, der die Geschichten bringt… – ?

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© Klaus M. Einwanger

Oder ist es so: Ist das knopfäugige Männlein aus dem Fernsehen der einzige bekannte Sandmann, der sich hat erwischen lassen und so seine Wolke verloren hat.*(5)  Ein Umstand, der einen Fuhrpark von 300 Fahrzeugen mehr als erklären würde, denn was ersetzt schon eine richtige, echte Wolke?

„Gar nichts!“ – würde Duwaddiwaddi sagen, der Sandmann-Schüler, der gerade das Wolkenfliegen gelernt hat und es um nichts mehr missen möchte.

Warum es Sandmann heißt und nicht Sandfrau, oder Sandmensch, fragen wir die Sandmannmeisterin. „Ach, das sind alles menschgemachte Bezeichnungen.“, winkt sie ab. „Die haben doch keine Ahnung! Aber wir können sie ja schlecht korrigieren ohne aufzufallen. Und eh klar – ein SandMANN hat sich erwischen lassen?! Wäre mir nie passiert.“


(1) Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung aus dem Jahr 1798, Online; vgl. auch Catholicon ou Dictionnaire universel de la Langue Francoise Volume 5 von Johann J. Schmidlin, 1771, Online: „Man sagt im gemeinen Leben scherzhaft: le petit bon homme le prend, d.i. der Schlaf überfällt ihn; vulgo der Sandmann kommt.“

(2) Opium war in der Form von Laudanum über vier Jahrhunderte hinweg bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ein äußerst beliebtes und erschwingliches Allheilmittel, für Husten, Schmerzen und allerlei sonstige Gebrechen und wurde auch Kindern in niederen Dosen zum Schlafengehen verabreicht.

(3) E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, 1816

(4) Es ist die alte Pflegerin der kleinen Schwester Nathaniels, die dem jungen Nathaniel die Horrorgeschichte vom Augen-ausreißenden Sandmann erzählt – damit dieser sein Bett abends nicht mehr verließe und sich brav schlafen lege.

(5) aus Duwaddiwaddi im Reich der Mitte, Hagen v.d. Butte, 2022

Quellen:

„Der Sandmann als Fabelfigur und Medienstar“, Volker Petzold, Volkskunde in Rheinland-Pfalz 19/1, 2004, unter: http://digitale-kulturanthropologie.de/wp-content/uploads/2011/09/19-1.2004-Sandmann.pdf (abgerufen am 19.04.2022)

„Das Sandmännchen wird 60: Kult bei Klein und Groß“, Peter Zander, Berliner Morgenpost, unter: https://www.morgenpost.de/kultur/article227711609/Das-Sandmaennchen-wird-60-Kult-bei-Klein-und-Gross.html (abgerufen am 19.04.2022)

„Ole Lukoie, the sandman“, unter https://andersen.sdu.dk/forskning/motiver/vismotiv_e.html?id=77 (abgerufen am 19.04.2022)

„Ole Luk-Oie“, Hans Christian Andersen, unter: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/maerchen/chap100.html (abgerufen am 19.04.2022)

„Die Geschichte des Sandmännchens“, unter: https://www.sandmann.de/frueher/ (abgerufen am 19.04.2022)

„Drogen und Gesellschaft“, Viktoria List, GRIN Verlag, München, 1996, unter: https://www.grin.com/document/103907 (abgerufen am 19.04.2022)

Veröffentlicht von
Christian Walter

Ich bin gelernter Kaufmann, Filmvorführer und Gabelstaplerfahrer. Mein Germanistik und Philosophie-Studium bringt mich bis heute zum Lächeln.

Nach Abstechern über den Journalismus und die Escape-Room-Branche, bin ich nun im Verlagswesen gelandet und kümmere mich bei Ohrenflausen um verschiedenste Managementprozesse, Dateiablagesysteme und immer wieder auch um Illustrationen für unsere Titel.

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